Plenum: 04.05.2023
Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen:
„Kein Platz für Gewalt an Frauen und Mädchen: Istanbul-Konvention strategisch und ressortübergreifend umsetzen – Koordinierungsstelle einrichten“
Text:
Herr Präsident! Liebe Alle! Seit 2023 gilt auch in Deutschland endlich die Istanbul-Konvention uneingeschränkt. „Istanbul-Konvention“ steht für das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung ‑ also zur Prävention ‑ und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Die Istanbul-Konvention formuliert also das, was hier bei uns in Niedersachsen genauso wie überall auf der Welt gelten muss: Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen, Gewalt zu verhüten und jede Form von Diskriminierung der Frauen zu beseitigen, patriarchale Strukturen beenden und eine echte Gleichstellung zu realisieren.
Wichtig ist dabei: Die Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten zur Umsetzung dieser Ziele. Aber leider sind wir davon auch bei uns noch weit entferntGucken wir auf das Thema häusliche Gewalt: 80 % der Opfer von häuslicher Gewalt sind Frauen. Bei den Straftaten Bedrohung, Stalking und Nötigung in der Partnerschaft waren die Opfer sogar zu rund 86 % weiblich. Erfasste Straftaten sind Mord und Totschlag, Körperverletzung, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Bedrohung, Stalking, Freiheitsberaubung, Zuhälterei und Zwangsprostitution. Täter waren dabei überwiegend der Ehemann, (Ex-)Partner oder männliche Angehörige.
Ich möchte aber, dass klarer wird, was diese Zahlen bedeuten: Alle 4,5 Minuten wird eine Frau in Deutschland Opfer partnerschaftlicher Gewalt – also während dieser Rede fast zwei Frauen. Alle 45 Minuten wird eine Frau Opfer schwerer körperlicher Gewalt. Das bedeutet, in unserer Mittagspause sind das zwei Frauen. Alle 2,5 Stunden wird eine Frau Opfer von Vergewaltigung, sexueller Nötigung oder sexuellen Übergriffen. Das sind seit dem Aufstehen heute Morgen bis jetzt ungefähr drei Frauen. Insgesamt starb 2021 fast jeden dritten Tag eine Frau durch partnerschaftliche Gewalt, und bald an jedem Tag fand ein Tötungsversuch statt. Ich möchte, dass Sie sich klarmachen: jeden Tag.
Häusliche Gewalt zieht sich durch alle sozialen Schichten und Milieus.
Alle diese Daten beruhen nur auf den polizeilich registrierten Fällen. Es gibt ‑ davon können wir ausgehen ‑ eine hohe Dunkelziffer; denn es ist sicherlich verständlich, dass Frauen hier vielfach schweigen und sich nicht an eine Beratungsstelle und schon gar nicht an die Polizei wenden und die Taten anzeigen.
Aber Gewalt findet nicht nur hinter verschlossenen Türen und im privaten Umfeld statt, sondern auch im öffentlichen Raum, im digitalen Raum ‑ dazu haben wir heute Morgen schon sehr viel gehört ‑ oder auch durch Institutionen.
Manche Frauen sind stärker betroffen. Dazu hat Frau Camuz heute Morgen schon deutlicher ausgeführt. Es betrifft nämlich mehrfach marginalisierte Personen, beispielsweise arme Frauen mit prekären Arbeitsverhältnissen, Frauen mit unsicherem Aufenthaltsstatus oder Frauen mit einer Behinderung – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Aber auch Frauen, die trans sind, sind besonders gefährdet, weil sie weniger Zugang zu Schutzräumen haben und weniger Unterstützung bekommen.
Was zudem immer noch vielfach vergessen wird, ist: Die Istanbul-Konvention dient auch dem Schutz unserer Kinder. So ist z. B. die Berücksichtigung von gewalttätigen Vorfällen bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht zu berücksichtigen. Dazu wurde erst jüngst in einer Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung wieder berichtet, dass dies noch nicht immer zu wenig Beachtung findet, mit fatalen Folgen für die Kinder.
Auch die Deutschen Kinderhilfe hat hierzu erst vor Kurzem ein Statement veröffentlicht.
Wir sind mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention eine Verpflichtung eingegangen: Alle staatlichen Organe ‑ darunter Gesetzgeber, Gerichte und Strafverfolgungsbehörden ‑ haben die Verpflichtung, die Konvention umzusetzen. Gewaltschutz muss also stets Beachtung finden.
Aber eigentlich, liebe Kolleg*innen, wünsche ich mir, dass wir diese Verpflichtung gar nicht brauchen. Denn es ist unsere Verantwortung als Gesellschaft, als Mitmenschen, so zu handeln. Und es ist unsere Verantwortung als Politiker*innen, alles für ein gewalt- und angstfreies Leben, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Aussehen und sozialer Lage, zu tun. Denn Gewalt ist niemals Privatsache.
Und deswegen beantragen wir mit der Hoffnung auf volle Unterstützung durch dieses Parlament die Einrichtung einer Koordinierungsstelle gemäß Artikel 10 der Istanbul-Konvention als zentrales Element.
Bisher gibt es schon an vielen Stellen Anlaufstellen zur Beratung, es gibt Frauenhäuser und weitere Unterstützungsmaßnahmen, die alle Großartiges leisten, allerdings meistens unter unsicheren Finanzierungsbedingungen und mit unzureichender Vernetzung. Was fehlt, ist eine Gesamtstrategie zur Umsetzung der Istanbul-Konvention. Hier setzt die Koordinierungsstelle an. Sie koordiniert die ressortübergreifende Umsetzung. Sie wirkt als zentrale Vernetzung, die auch nichtstaatliche Stellen und die Zivilgesellschaft einbindet.
Damit komme ich zu Punkt 2 unseres Antrags: Wir beantragen, dass neben der Präventionsarbeit das Unterstützungs- und Hilfesystem für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen gemeinsam mit den Kommunen weiter ausgebaut wird und der Blick dabei besonders auf die Bedarfe von Frauen in besonderen Lebenslagen gerichtet wird. Ein paar davon habe ich eben erwähnt.
Und ich möchte noch ergänzen: Wichtig ist hierbei die Erreichbarkeit für dieses Hilfe- und Unterstützungssystem im ganzen Flächenland!
Ein wichtiger Punkt ist natürlich, dass wir dabei mit dem Bund zusammenarbeiten und dessen Unterstützung erhalten.
Deswegen bitten wir die Landesregierung im dritten Punkt, sich weiter auf Bundesebene für einen einheitlichen Rechtsrahmen bei der Frauenhausfinanzierung und eine stärkere Beteiligung des Bundes bei der Finanzierung von Gewaltschutzeinrichtungen einzusetzen.
Aber das wird nicht reichen. Deswegen ist es erforderlich, dass wir das auch dauerhaft in unsere Mittelplanung aufnehmen. Deswegen bitten wir darum, die Mittel zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Niedersachsen dauerhaft bereitzustellen.
Gewalt gegen Frauen und Mädchen muss flächendeckend verhindert und bekämpft werden. Die Umsetzung der Istanbul-Konvention ist ein wichtiger Schritt zum Schutz von Frauen, Mädchen und Kindern vor häuslicher und sexualisierter Gewalt. Gewaltschutz ist eine ressortübergreifende Aufgabe und erfordert eine Gesamtstrategie. Diese Gesamtstrategie gilt es, voranzubringen, und dafür bitten wir Sie um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.